Sonntag, 6. März 2011

Immer nur nachts.

Manchmal wandere ich noch immer durch unser Haus. Jeder Raum ein Verbrechen.
Schläge. Schreie. Wut. Hass.
Das Telefon, das viel zu spät klingelt.
Viel zu spät. Vater ist nicht zuhaus.
Um 4. Wie die Zeit vergeht.
Und das Telefon klingelt
Die Schrankwand kaputt. Die Gläser zerbrochen.
Am Abendbrottisch. Und Mutter weint.
Vater in Hamburg. Immer unterwegs. Nie allein. Niemals da.
Mutter weint. Vater trinkt. Konrad schreit. Stefan schweigt. Vater schläft. Mutter arbeitet.
Immerzu. Auch nachts noch, manchmal. Wenn sie nicht schlafen kann. Manchmal jede Nacht. 
Immer nur nachts.
Immerzu. Räumt sie auf. Sammelt sie die Scherben auf. Hält eine heile Welt zusammen.
Der Spiegel lügt. Die Schrankwand bricht.
Die Gläser auf den Boden. Immer nur nachts.
Tische fallen. Stühle kippen. Kerben bleiben.
In den Dielen. An den Wänden. Im Schrank. Im Tisch. Im Stuhl. Unter meiner Haut.
Vater trinkt. Halb 4 zuhause. Halb 5 zuhause. 3 Uhr morgens. Mitternacht. 6 Uhr. Heimkehr.
Heimkehr ohne Reue. Betrunken.
Du riechst nach Qualm. Nach Alkohol und „Titty Twister“. Ich schäme mich. Jeden Tag.
Mein Telefon klingelt. Ich will nicht. Ich will schlafen.
Und Mutter weint allein. Allein wie wir alle.
Vater trinkt allein - mit nackten Frauen. 
Konrad raucht allein - mit Freunden, die keine sind.
Stefan bleibt in seinem Zimmer, Musik ganz laut, die Welt hinaus. 
Mutter weint allein. 
Allein.
Allein wie wir alle.
Immer nur nachts.
Ich halte mir die Ohren zu. Die Augen zu. Dann trete ich raus auf meinen Balkon.
Barfuß. Es ist Winter. Es ist kalt. Schnee unter mir. Ich fühle nichts.
Wind weht. Nimm mich mit.
Kalt. Herrlich kalt. Erinnerungen an unser Haus. Zuhause. Gibt es nicht mehr. Gab es nie.
Nur Kälte. Kälte. Kälte.
Und jeder für sich.
Am Abendbrottisch. Ein Wort gibt das andere.
Kampf. Unerträglicher Waffenstillstand.
Versteckte Drohungen. Schlecht getarnt. Und Lügen.
Das habe ich nie gesagt!“
ICH SCHREIE NICHT. WÜRDE ICH SCHREIEN, WÜRDET IHR WENIGSTENS ENDLICH WISSEN, WAS DAS IST!“
VERKLAG MICH DOCH, WENN ES DAS IST, WAS DU WILLST.“ - „Ich will, dass du glücklich bist.“ - „ACH JA?“
Leise, laut, leise.
Laut, laut, Tränen.
Tränen und Wut.
Nur ihr habt damit ein Problem!“ Rebell.
Mutter schweigt. Vater schreit. Ich schweige auch.
Konrad wütet. „ICH ZÜNDE EUER HAUS AN.“
Jeder allein. Er sagte nicht „unser“ Haus.
Und keiner gehört dazu. Zerrissen.
Mutter weint. Sie ist ratlos. Vater schreit. Er ist empört.
Mutter weint. Sie ist einsam. Vater trinkt. Er ist allein.
Mutter weint. Sie hat aufgegeben. Vater trinkt. Er belügt sich selbst.
Mutter geht. Sie kann es nicht mehr ertragen.
Vater geht. Er war niemals da.
Immer fort. Immerzu. Betrunken. Laut. Fremdgegangen. Gelogen. Immer wieder.
Ich habe sie nie streiten sehen. Unerträglicher Waffenstillstand.
Bitte vergib mir. Ich weiß, ich habe Mist gebaut. Ich will mich ändern. Das kann ich nur mit dir. Gib mir noch eine Chance, bitte, bleib bei mir. Ich kann das nur mit dir.“
Vater winselnd auf den Knien. Die Augen glasig. Die Versprechen leer. 
Verliebt, verlobt, verheiratet, geschieden.
Er hat sich nie geändert.
Anna, bitte bleib bei mir. Geh nicht, ich änder mich für dich.“
Das Bleiben tat jedes Mal weh. Ich habe viel zu spät aufgegeben.
Mutter hat mich nie gewarnt. Ungeschützt.
Vor diesen entsetzlich glasigen Augen. Einraumwohnung
Und ich weine im Badezimmer. „Lass mich rein, bitte, Anna“ 
Ich will schlafen. Ich will Ruhe. Ich will Zeit.
Wie oft bin ich 3 Uhr morgens geflohen. Um 4. Um 5. Halb 2. Halb 1. 
Nachts durch die Stadt.
Nach hause. Wo keiner mehr ist. Mutter weit weg. Justus auch. Stefan in München. Mutter in Amerika. Weit weg. Alle.
Allein. Und ich verliere alle Tränen. Bin nur noch leer. Ich bin mir selber viel zu kalt. 
Gefühllos. Herzlos. Nur Kälte. Kälte. Kälte.
Weil Liebe wehtut. Immerzu. 
Ich kann nicht mehr.

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