Sonntag, 16. Oktober 2011

Für J.

Ich erinnere mich noch genau an den Blick in deinen Augen, als wir uns zum letzten Mal sahen. Und an die schwachen Arme. Und deine Schritte waren wie abgemessen. Du bist ruhelos durch den Raum geschritten, so als zöge dich eine Schnur durch das Leben. Als wären deine Körperteile einzeln aufgehangen. Als ob jemand aus der Ferne jeden deiner Wege lenkt. Und deine Augen waren so leer gewesen. Und deine Kraft hat nie gereicht. Ich habe dich nie träumen gesehen. Du kennst keine Wünsche, die der Anderen sind schwer genug. Und die Begeisterung in deinen Sätzen, die kam nicht von innen. Von innen kam nur die Zerstörung. Und nach außen warst du immer kontrolliert. Immer akkurat. Jedes deiner Worte wie abgewogen. Und willenlos hast du dich ergeben. Ich habe dich nie leben sehen. Nur funktionieren. Und ich kam nicht bis zu dir. Dein Rücken war so gerade, wie ich nie einen gesehen habe. Und ich habe dich zerbrechen sehen, jeden Tag ein Stückchen mehr. Jeden Tag ein Stückchen weniger. Ich konnte zusehen, wie deine Haut langsam zurückgewichen ist. Wie sie den Knochen gewichen ist, die stärker und stärker hervortraten. Deine Wangen wurden immer hohler. Und dein Herz immer leerer. Dein Blick war verloren. Und deine Sprache schon nicht mehr von dieser Welt. Deine Lippen haben an Farbe verloren, wie dein Leben, wie du. Und wenn ich heute deine Fotos sehe, dann sehe ich noch immer nicht dich. Ich sehe, wie deine Haut so dünn ist, dass ich das Nichts dahinter sehen kann. Ich sehe, wie deine Blicke noch immer ins Leere greifen. Ich sehe jeden deiner Knochen. Jede deiner Rippen. Deine Schlüsselbeine. Und deine knochigen Finger. Ich sehe dein Lächeln. Und ich sehe den Abgrund in deinen Augen. Deinen tiefdunklen Augen, die keinen Boden kennen. Und ich sehe und stehe machtlos daneben, nicht einmal daneben, denn dafür ist die Weite zu groß. Und deine Welt ist noch immer die gleiche. Und du kannst mir schreiben, es gehe dir gut. Du kannst lachen und du kannst lügen. Und du kannst mir deine Träume in all den Farben beschreiben, die du nicht kennst. Aber ich kann das Leid sehen. Es ist eingraviert in deinen Körper. Es zeichnet jeden deiner Züge nach. Es liegt in jeder Geste. In jedem deiner Schritte, die du kraftvoll setzt, mit deinen viel zu schwachen Beinen. Auf diesen Boden, der Nachts nur aus Löchern besteht. Und du schlägst niemals auf, solange du fällst. Du hast den Grund noch nicht erreicht. Und vielleicht fällst du einfach weiter, immer weiter, durch die Zeit und durch diese Welt. Ich kann dich sterben sehen. Und ich komme nicht über das sehen hinaus. Ich bin zu weit weg, viel zu weit weg, schon immer gewesen. Und die Anderen, sie sind vielleicht zu nah um nicht blind zu sein.

3 Kommentare:

  1. Ich habe auch mal mitansehen müssen, wie eine gute Freundin immer weniger wurde, ich habe ihr beim langsamen Sterben zugesehen und konnte nichts dagegen tun. Ich habe geredet, gefleht, geschrien, geweint... aber ich drang einfach nicht mehr zu ihr durch. Das war eine sehr, sehr schmerzhafte Erfahrung. Ich hoffe sehr für J., dass es jemanden gibt, der sie erreichen kann, bevor es zu spät ist.

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  2. Ich hoffe es ebenso. Gab es bei dir damals jemanden, der bis zu ihr kam?

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  3. Es gab jemanden. Aber sie wäre fast gestorben. Und sie hat die Anorexie nie richtig in den Griff bekommen.

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