Sonntag, 18. September 2011

Das gute Mädchen.

Ich war immer beliebt. Von klein auf das gute Mädchen. Das, was nie Ärger gemacht hat. Das, was immer lieb war. Das, was denen ihres Alters immer ein Stückchen voraus war. Das kleine Mädchen, was den anderen im Kindergarten Märchen vorgelesen hat. Was immer hilfsbereit war. Und das man nie herumwüten gesehen hat. Das, was den anderen Kindern die Schuhe zugebunden hat. Das, was schon rechnen konnte. Das, was immer fröhlich war. Was immer gelächelt hat. Und für jeden Spaß zu haben war. Ich war auch das Mädchen, das im Kindergarten schon mehrere Ehemänner zur Auswahl gehabt hätte. Ich war hilfsbereit. In meinem Grundschulzeugnis stand außerdem noch "aufgeschlossen" und "selbstbewusst" und "bei ihren Klassenkameraden sehr beliebt".

Ich war ein liebes Kind. Vielleicht war es auch das, was du so an mir gehasst hast. Denn ich hatte nie mit dieser Welt zu kämpfen, die dir so hart und ungerecht erschien. Ich hatte nie Probleme, bin nie angeeckt. Mir fiel so vieles leicht, wofür du hart kämpfen musstest. Und mir fiel vieles einfach in den Schoß, was du nie bekommen hast. 

Ja, ich war lieb. Und geweint habe ich immer allein. Denn ich war nicht nur offen. Es gab auch diese andere Seite, die ungeteilt bleiben musste. Die geweint hat, die schwach war, die Angst hatte. Die zu stolz war, ihre Angst zuzugeben. Die klaglos hingenommen hat, was man ihr gab. Die sich nicht getraut hat um etwas zu bitten. Die nicht nehmen wollte. Die Angst hatte, etwas zu brauchen. Etwas brauchen zu müssen. Die nicht fragen konnte, die nicht sagen konnte, wenn ihr etwas gefehlt hat. Aus Angst, undankbar zu sein und gierig. Die Angst hatte, wütend zu werden. Die nie so werden wollte. So laut, so wütend, so voller Hass auf die Welt. Die Angst hatte, schreckliche Angst. Die geweint hat. Die sich gefragt hat, warum sie nicht gut genug sein konnte. Warum sie nie genug war. Die nicht verstehen konnte, dass es nicht an ihr lag. 

Die einfach zu klein war. Zu klein und zu wehrlos. Hilflos. Man könnte auch sagen: loyal. Denn ich habe nie Hilfe geholt. Ich hätte welche bekommen. Habe nie geschrien. Habe nie gepetzt. Habe nie zugegeben, dass ich Angst hatte. Und dass es mir wehtat. Dass ich Angst hatte, vor dir und deiner ungebremsten Wut. Vor deinem Gebrüll. Vor deinen Worten. Vor deinen groben Schritten in den derben Springerstiefeln. Vor deinen rauen Händen. Und deiner Verachtung. Nein, das habe ich nie zugegeben.

Ich wollte nie schwach sein. Und was ich am meisten gefürchtet habe, war, meine Würde zu verlieren. Nicht mit erhobenen Haupt wieder aufzustehen. Irgendwann mein Gesicht zu verlieren. Irgendwann nicht mehr über deinem Hass zu stehen. Ja, vermutlich habe ich das nie getan. Aber ich habe nie zugegeben, dass es mich doch verletzt hat. Dass deine Wut mir mehr wehtat, als ich jemals hätte sagen können.

Und manchmal denke ich, es ist genau dieser Hass, den ich heute noch manchmal fühle. Dass es dein Hass ist, von damals, der noch immer in mir lebt. Ich habe mich nie getraut, laut zu werden. Ich habe die Explosionen gesehen, ich wollte nie so sein. Ich kann noch immer nicht wütend sein. Es ist manchmal noch immer wie damals. Ich werde nicht wütend, ich werde schuldig.

Mit ein bisschen mehr Selbstbewusstsein wäre ich vielleicht wütend geworden. Mit ein Stückchen weniger Liebsein hätte ich vielleicht zurückgeschrien. Hätte geschrien: "WARUM SCHREIST DU, DASS DU MICH UMBRINGEN WILLST, ICH HABE DIR ÜBERHAUPT NICHTS GETAN!" Oder ein schlichtes: "ICH HASSE DICH AUCH!" Aber das habe ich nicht. Nicht einmal gedacht. Nicht ein einziges Mal. Nur leise geschluchzt. Ich habe dir geglaubt. Ich habe nicht dich gehasst, sondern mich. Ich habe dir geglaubt. Ich habe mich schuldig gefühlt. Habe mich schuldig gemacht. Mit ein wenig weniger Scham hätte ich vielleicht mit Heulen angefangen. Aber das hätte ich nicht gedurft. Schwach zu sein. Das durfte ich nicht. 

Ich hatte zu viel Angst, was dann passieren würde. Wenn du wüsstest, wie weh es mir tut. Wenn du das gewusst hättest. Was wäre dann passiert? Hättest du aufgehört? Aber hast du wirklich nicht gesehen, wie sehr mich das verletzt hat? Hast du? Hast du? Hast du nicht? Hast du nicht sehen wollen? Hast du nicht sehen können? Warst du blind? Vor Wut oder vor Hass oder vor Verzweiflung? Weißt du, warum du mich so gehasst hast? Warum war ich nicht liebenswert? Nicht deine Liebe wert? Und warum bin ich heute nicht meine Liebe wert? Ist es mein Hass oder ist es deiner? 

Nein, heute kann ich es nicht mehr trennen. Und wütend sein, dass ist etwas, das ich erst mühsam erlernen muss. Und was aus der Zeit geblieben ist, ist vielleicht nur diese Verachtung. Deine Verachtung, die nun meine Verachtung ist. Deine für die Welt, meine für mich.

Und heute, wenn alles gut ist. Wenn die Vergangenheit schon lange nicht mehr in Träumen erscheint. Wenn ich schon lange nicht mehr daran denken muss. Und schon längst keine Tränen mehr da sind. Habe ich doch noch zu kämpfen mit diesen Überbleibseln. Diesen kleinen Resten, die sich irgendwo in mir festgesetzt haben. Die kleinen Stiche, die immer noch da sind. Du schreist schon lange nicht mehr durch meine Welt. Und auch deine Gewalt ist lange Vergangenheit. 

Ja, wenn ich dich heute sehe, du bist ein wundervoller Mensch geworden. Und dennoch bleibt irgendetwas. Du sagst, du erinnerst dich nicht mehr daran. Vielleicht ist es besser so, vielleicht ist es gelogen. Vielleicht willst du die Zeit ebenso vergessen wie ich. Die Erinnerungen verfolgen mich längst nicht mehr.

Und ich bin noch immer beliebt. Um Liebe musste ich tatsächlich nie kämpfen. Und ich bin noch immer das süße Mädchen, das jeder gerne hat. Das jedem gerne hilft. Das immer lächelt. Das Freunde hat, die auch da wären, wenn sie es nicht täte. 

Nein, heute ist alles gut. Nur ich bin noch wie damals. 
Du hast irgendwann aufgehört mich zu hassen, ich nicht.

Heute ist alles gut.

Aber diese Zeit hat mich verändert. Und das ist, womit ich heute kämpfe.

1 Kommentar:

  1. "Ich kann noch immer nicht wütend sein. Es ist manchmal noch immer wie damals. Ich werde nicht wütend, ich werde schuldig." Gänsehaut.

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