Montag, 15. August 2011

Meine Stadt (Auszug aus meinem Tagebuch, 28.05.2011)

Komm mit mir.
Ich zeige dir meine Stadt.

Komm mit mir, ich zeige dir den Weg, den ich gehe, gehen muss, jeden Tag. Wenn es egal ist, ob ich will oder nicht. Ich zeige dir den Weg zur Stadt, zu meinem Haus und wieder zurück. Und vielleicht findest du irgendwo unterwegs irgendetwas. Das schön ist, oder auch nicht, aber anders.

Komm mit mir, ich zeige dir die Laterne, an der ich geweint habe, am letzten Tag davor. Ich zeige dir auch die Klinik, die danach war. Die sieben Monate war. Ein halbes Jahr. Ist viel zu lange in Gefangenschaft. Und doch musste ich. Und wollte ich, bevor ich wusste, was das bedeutet.

Komm mit mir, ich zeige dir das Bächlein, das da vorbei lief, an unserem früheren Haus. Als wir noch alle zusammen lebten. Und trotzdem schon manchmal jeder für sich war. Ich zeige dir dieses Bächlein, an dem ich oft war, als Kind. Dem ich all meine Sorgen erzählt habe, und gehofft habe, sie würden fortschwimmen und nie wiederkehren. Und zeige dir das Haus. Da, siehst du, da habe ich gewohnt. Da, das Haus, das mit dem Vorgarten und den schönen Balkons, das gelbe mit den roten Fenstern. Und der geschlossenen Tür, dort hinter dem Zaun.

Komm mit mir und ich zeige dir die Straße, die ich nachts so oft gegangen bin, gerannt bin, manchmal, vor Angst, mich umzudrehen. Aus Angst, die glasigen Augen hinter mir nicht zu vergessen. Die Straße zwischen den zwei Zuhause. Und Zuhause hat gar keinen Plural, weil die meisten nur eins haben, und manche gar keins. Aber dieser Weg, der lag wie ich irgendwo dazwischen. Bis ich merkte, das eins von beiden gar kein Zuhause war. Nur das Haus eines Säufers. Und dann bin ich den Weg nie wieder gegangen.

Komm mit mir, ich zeige dir auch den Brunnen, in dem die Sonne liegt, und die Märchenfiguren. Und die Wiese rundherum, wenn es Sommer ist. Gleich neben dem Fluss, in dem das Bächlein endet. Und sie dort liegen, am Wasser, das gar keinen Strand hat. Und wo sie trotzdem alle liegen, im Bikini. Und manche baden sogar in dem Fluss, der auch auf dem Schild am Bahnhof steht. Der in Klammern steht und über den Lieder gesungen werden, die man in der Grundschule lernt. Gleich nach den Regeln im Straßenverkehr.

Komm mit mir, ich zeige dir die Gasse mit den vielen Cafés. Die gekrümmt ist, und im Sommer ganz eng, weil sie voll ist, von den Stühlen zum Draußensitzen. In der ich manchmal Abends bin, um zu tanzen oder zu reden, oder zu lachen oder um nicht allein zu sein. Und manchmal rede ich über Sachen, die ich sofort wieder vergesse, weil sie egal sind, aber besser als schweigen. Oder ist das meistens? 
Und manchmal lache ich und meine es sogar ernst.

Komm mit mir, ich zeige dir den Platz am Fenster in der Bahn, auf dem ich saß, an jenem Tag. Als die Fenster beschlagen waren und ich schreiben wollte. Und mich nicht getraut habe. Und so blieben die Worte gefangen in meinem Kopf.  Be my friend, hold me. Wrap me up, unfold me.
Und wenn ich sie wieder höre, denke ich an all die Tränen, die ich vergossen habe, verloren habe, irgendwo unterwegs in dieser Stadt. Die alle gesehen haben, und alle geschwiegen haben, und weggeschaut.

Komm mit mir und ich zeige dir die Blumen, die daraus gewachsen sind. 

Komm mit mir, ich zeige dir all die Blicke, die ich aushalten muss, Tag für Tag. Ich zeige dir die Spiegel, denen man nicht ausweichen kann, weil sie überall sind. Ich zeige dir, dass diese Stadt voller Spiegel ist. 

Komm mit mir, ich zeige dir dieses eine Café, in dem ich angefangen habe zu weinen. Zu weinen und weinen, weil ich nicht essen konnte. Weil ich nicht essen konnte, selbst wenn ich es wollte, weil es irgendwann zu spät war und ich machtlos. Und in mir selber gefangen war. Als ich irgendwann nicht mehr hinauskam und nicht mehr weiter. Und es mir auf einmal nicht mehr egal war. Als ich wusste, dass ich sonst sterben würde. Und als ich das auf einmal nicht mehr wollte. Als ich auf einmal Angst hatte vor dem Tod. Und vor mir selber.

Komm mit mir, ich zeige dir die Schule, in die ich gegangen bin, davor und danach und währenddessen. In der ich fast verhungert bin. Denn das Sterben, das beginnt schon viel früher, als die Menschen glauben. Und als sie es bemerken. Denn das beginnt schon, wenn die Temperatur  auf einmal nur noch bei 35°C liegt, wenn man die Rippen im Spiegel zählt, wenn man morgens nicht aufstehen kann, ohne das einem schwindelig wird. Wenn man ununterbrochen Krämpfe hat, und weiß, dass auch die Magnesiumtabletten, die Vitamintabletten, die man Tag für Tag nimmt, nicht mehr helfen können. Wenn man nachts wachliegt, wenn man jede Nacht wachliegt und manchmal Sport macht, und manchmal Kuchen bäckt, die man niemals essen wird. Wenn man zählt und wiegt und zählt und zu viel wiegt und zählt und wartet, bis es besser wird.
Wenn man abnimmt, jeden Tag, ohne dünn zu werden.  
Wenn Essen ekelhaft wird. Wenn man nachts aufwacht, weil man von Kuchen geträumt hat. Weil das ein Alptraum war, und man Angst hat, nur Angst, nur Angst. Und zur Waage rennt und zur Küche rennt, um zu sehen, dass der Kuchen noch dort steht, dass alles noch gut ist und der Kuchen unberührt.

Komm mit mir und ich zeige dir die Bücher, die vielen Tagebücher und die Bilder und die Zettel von damals. Auf einem steht 45. Auf dem anderen 44,5. 44,2. 43,7. 44,3. 42,8.
Und ich kann noch heute sagen, wie weh das 44,3 tat. Und wie ich am Morgen von 42,8 kurz gelacht habe. Und glücklich war, so glücklich war. Und dann wieder leer.
Und zur Belohnung in die Stadt laufen, wie jeden Tag. Zur Belohnung 2 Vitamintabletten, wie jeden Tag. Und zur Belohnung nichts zu essen, wie jeden Tag. Weil es damals kein gut gab. Nur erträglich. Und selbst das nicht wirklich. Weil die Tage leerer wurden und leerer und egal.
Es gab damals nur Schmerz und Leere und Zahlen.
42,3. 41,9. 41,8. 41,5. 41,3.  
Bei 40,2 bin ich in die Klinik gegangen.
Heute gibt es keine Zahlen mehr. Aber das Dicksein, das gibt es noch.
Das Hässlichsein, das Sich-schämen, das Zu-viel-Sein, das Nie-genug-sein. Das alles gibt es noch. Aber das ist nicht mehr jeden Tag.

Komm mit mir und ich zeige dir die Bilder aus dem Urlaub. Auf denen ich Kleider trage. Auf denen ich schön bin. Auf denen ich glücklich bin. Die alt sind. Und fast schon nicht mehr wahr.

Komm mit mir, ich zeige dir das Haus, in dem ich jetzt lebe. In dem ich sicher bin. Und manchmal glücklich. Aus dem ich trotzdem weg möchte. Weil ich hier weg möchte.

Komm mit mir.
Und flieh mit mir aus meiner Stadt.

Komm mit mir
nie wieder hier her.

1 Kommentar:

  1. Das ist... wahnsinnig berührend geschrieben. - Manchmal ist es notwendig, alles hinter sich zu lassen. Neu anzufangen. In einer anderen Stadt.
    Alles Liebe dir.

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